Im «Projekt Schweiz» porträtiert Charles Lewinsky Jeremias Gotthelf und spricht ihm ein grosses Lob aus.
Ein Platz am Ehrentisch im Olymp der Poeten: Jeremias Gotthelf neben Honoré de Balzac und Charles Dickens
Im «Projekt Schweiz» stellen uns vierundvierzig Autorinnen und Autoren eine Schweizer Persönlichkeit vor, die wir kennenlernen sollten – weil sie das Land geprägt und bereichert haben, aber vergessen sind oder neu gesehen werden sollten.
Der literarische Schweizer «Tausendsassa» Charles Lewinsky trägt dazu einen tollen Text über Jeremias Gotthelf bei. Lewinsky hat sich nicht zuletzt bei der Arbeit an «Gotthelf - das Musical» intensiv mit dem Schriftsteller befasst. An einem spannenden und humorvollen Referat bei uns im Gotthelf Zentrum hat er sich vor einiger Zeit als profunder Gotthelf Kenner erwiesen und erklärt, wie aus dem Roman «Die Käserei in der Vehfreude» das Musical entstanden ist. Wie er die Handlung straffte, einzelnen "Nebenfiguren" aus dem Roman einen grossen Bühnenauftritt verpasste, Lieder textete - und sogar Jeremias Gotthelf selbst auftreten liess. Die Arbeit habe ihm Spass gemacht, weil er sich wieder einmal intensiv mit Gotthelf auseinandersetzen konnte, sage er damals - und: «Gotthelf lesen macht einen immer glücklich».
Hier gibts den Bericht über diesen Vortrag:
Es ist ein grosses Glück, dass der Unionsverlag Charles Lewinsky das Porträt Gotthelfs anvertraute. Und wie nicht anders zu erwarten war, fand Lewinsky einen aussergewöhnlichen Zugang: Er stellt sich vor, er könnte im Olymp der Poeten die Tischkärtchen verteilen. Dann würde er Jeremias Gotthelf an den Ehrentisch setzen, zusammen mit Honoré de Balzac (links) und Charles Dickens (rechts)... was für ein schönes Bild!
Dank der der freundlichen Genehmigung des Unionsverlags dürfen wir hier das Porträt Gotthelfs von Charles Lewinsky wiedergeben. Lesen Sie hier den Einstieg - und dann die Fortsetzung im PDF.
Charles Lewinsky zu Jeremias Gotthelf
Ich weiss, ich weiss. Schriftsteller-Ranglisten sind sinnlose Unterfangen. In unserem Gewerbe gibt es keine eindeutigen Champions und keine ewigen Rekordhalter. Jede Generation – ach was: jeder Leser – teilt den Meistertitel jemand anderem zu.
Und doch wage ich es hinzuschreiben: Jeremias Gotthelf war der grösste Dichter, den die Schweizer Literatur je hervorgebracht hat. Für alle, die lieber Gottfried Keller oder womöglich Friedrich Dürrenmatt auf diesem Thron sehen möchten, sei gleich hinzugefügt: Er war vielleicht nicht der grösste Schriftsteller. Aber der grösste Dichter war er ganz bestimmt.
Hätte ich im Poetenolymp die Tischkärtchen zu verteilen, ich würde für ihn einen Platz am Ehrentisch reservieren, gleich neben Balzac und Dickens, dort wo die grossen Geschichtenerzähler und Menschenbeschreiber zusammensitzen und sich gegenseitig ihre guten Kritiken vorlesen. Und wenn ein himmlischer Aufseher, irgend so ein Literaturkontrolleur mit dicken Brillengläsern und einem Doktortitel in Germanistik, Einspruch gegen diese Platzierung erhöbe, dann gäbe ich ihm den Bauern-Spiegel zu lesen, und schon bald würde er die Herren Balzac und Dickens auffordern, ein bisschen zusammenzurücken, es sei da einer angekommen, der zu ihnen gehöre.
Denn alle drei haben diese Autoren etwas geschafft, das nur wenigen gelingt: Sie haben ihre Welt und ihre Zeit so präzis beschrieben, dass wir sie uns gar nicht mehr anders vorstellen können als in dieser Beschreibung. Obwohl Oliver Twist das viktorianische England bestimmt nicht eins zu eins so abbildet, wie es war, genauso wenig, wie es Elsi, die seltsame Magd für das Emmental tut. Aber die grossen Geschichtenerzähler beherrschen eben die Kunst, Welten zu erschaffen, die wirklicher sind als die Wirklichkeit. Und auch viel länger Bestand haben.
Die versammelten literarischen Olympier, stelle ich mir vor, würden allerdings über diesen bäurischen Emmentaler Dorfpfarrer, den man da neben sie setzte, die Nase rümpfen und die neue Nachbarschaft mit der sanften Verachtung zur Kenntnis nehmen, die Vertreter von Herrschaftssprachen gern gegenüber vermeintlichen Provinzlern an den Tag legen.
Vielleicht – im Olymp braucht man dafür nicht einmal Google – würde einer von ihnen aus der Kritik zitieren, die Gottfried Keller einmal über Gotthelf geschrieben hat: »Wahrscheinlich hat Bitzius einst Theologie und mithin auch etwas Griechisch und dergleichen studiert, von irgendeiner schriftstellerischen Mässigung und Beherrschung der Schreibart ist aber nichts zu spüren in seinen Werken.«
Autor: Werner Eoichenberger