1839 – 1844: Gotthelf und der «Neue Berner Kalender»
Kurze Episode als Kalenderschreiber
Von 1839 bis 1844 betreut Jeremias Gotthelf als Autor und Redaktor den «Neuen Berner Kalender», den die Gemeinnützige Gesellschaft herausgibt. Eben hat der Pfarrer aus Lützelflüh den Bauernspiegel verfasst und ist als Erzähler bekannt geworden, als er sich des Kalenders annimmt – ein Unternehmen das bisher nicht so recht floriert.
Gotthelf nimmt die Aufgabe ernst und erledigt sie mit pastoraler Verantwortung, weil er in die Breite wirken will – und wie kann er das besser, als mit einem Kalender, der von grossen Schichten der Landbevölkerung gelesen wird. «Es gibt einen eigenen Kalender», schreibt er voller Eifer und Draufgängertum an Cousin Carl Bitzius, und: «Aus Rezepten, wie Wanzen zu vertreiben seien und wie viel Junge die Steinböckin habe, macht man keinen vernünftigen Kalender», und er fährt fort: «Ich möchte in den Kalender Predigten bringen, das heisst hohe Wahrheiten, aber entkleidet von allem Kirchlichen, gefasst in Lebenssprache, wie man sie auf der Kanzel nicht duldet».
Volkskalender sind eng mit der bäuerlichen Arbeits- und Lebenswelt verknüpft und nehmen im frühen 16. Jahrhundert ihren Anfang. Sie enthalten Monatsblätter, «Aderlasstafeln»; später Geschichten von schauerlichen Ereignissen, politische Nachrichten aus aller Welt und sensationelle Berichte aus fernen Ländern. Dazu kommen die so genannten «Praktiken» mit Vorhersagen über das Wetter im Jahreslauf oder kommende politische Ereignisse. Von den «Praktiken» leitet sich übrigens der schweizerische Name «Brattig» für die Kalenderheftchen ab!
Kalender dienen der Aufklärung des Volkes, der Unterhaltung und Erbauung: So werden darin auch Gesetze und Erlasse bekannt gemacht, sie enthalten Rechnungstabellen, Verzeichnisse der Jahr- und Wochenmärkte, einfache Illustrationen, Zinstabellen und anderes mehr. In vielen Bauernfamilien gehört das Vorlesen von Kalendergeschichten zur Familientradition.
Der «Neue Berner Kalender» geht auf eine Initiative von 1834 der «Bernischen Gemeinnützigen Gesellschaft» zurück. Das Projekt hat nur beschränkten Erfolg, und bald sucht man einen neuen Redakteur – die Wahl fällt auf Jeremias Gotthelf, der die Sache sehr ernsthaft an die Hand nimmt und den Kalender auch äusserlich umgestaltet. Gotthelf behandelt Fragen des Glaubens, verfasst selbst Geschichten zu Katastrophen und Unglücksfällen, schreibt auch Satiren und äussert sich in oft angriffigen Kommentaren zur Politik und zum Geschehen im Land – und bald schon überwirft er sich mit dem Verleger und mit der Gemeinnützigen Gesellschaft.
So kehrt er bereits 1844/45 dem Kalender den Rücken. Allerdings wohl auch deshalb, weil ihm die kurzen Kalendergeschichten ein zu enges Korsett sind, die Kleinform des Kalenders ihm nicht wirklich liegt: Er braucht mehr Raum, der Roman mit seiner epischen Breite wird zunehmend sein Feld.
So bleibt seine Tätigkeit als Kalenderschreiber Episode. «Schade ist nur, dass er das Sammelsurium seiner Kalenderbeiträge nicht in Buchform zusammenstellte», schreibt Walter Muschg dazu. Rund zwei Dutzend grössere Erzählungen nimmt er immerhin in seine beiden Geschichtensammlungen auf, den Rest überlässt er der Vergessenheit. Ganz anders etwa als Johann Peter Hebel, der seine Geschichten im «Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes» zusammenstellt. Gotthelf greift übrigens für seine Romane teilweise auf eigene Kalendertexte zurück!
Trotz allem gehört Albert Bitzius neben eben diesem Johann Peter Hebel und Berthold Auerbach zu den bedeutendsten Kalenderautoren des 19. Jahrhunderts.
Kalendergeschichten – eine Auswahl
Das Krokodil
Der bekehrte Mordiofuhrmann
Wer lügt am besten
Das gelbe Vögelein und das arme Margrithli
Die beiden Raben und der Holzschelm
Die Rabeneltern
Weiberrache
Ein anderes Kaputtwerden
Mareili, die Kuderspinnerin und ihr Tröster
Reisebilder aus den Weltfahrten eines Schneiders
Der Eselikrieg im Rebsacker
Feuerjahr 1842 (u.a. über den Stadtbrand von Hamburg)
Autor: Werner Eichenberger; Quellen: Walter Muschg «Jeremias Gotthelf – Eine Einführung in seine Werke»; Francke Verlag Bern und München; Barbara Berger Guigon / Stefan Humbel / Thomas Richter / Christian von Zimmermann «Jeremias Gotthelf und sein Neuer Berner Kalender» – Jahresausstellung der Gotthelf-Stube, Edition HKG Jeremias Gotthelf Universität Bern